Von Joerg S.
In einer Zeit, in der Coaching-Methoden immer vielfältiger werden, sollten wir öfter Mal auch unseren den Blick nach Osten richten – insbesondere auf die traditionellen japanischen Philosophien des Shintoismus und des Zen-Buddhismus. Diese Jahrtausende alten Traditionen der Weisheit bieten wertvolle Perspektiven, Praktiken und Anhaltspunkte, die das moderne Coaching bereichern und sich dabei abseits von zweifelhaften oder suboptimalen Coaching-Ansätzen bewegen.
Die Essenz des Shintoismus im Coaching
Der Shintoismus, Japans ursprüngliche Religion, betont die tiefe Verbindung zur Natur und die Präsenz von kami (spirituellen Kräften) in allen Dingen. Für uns geht es dabei weniger um religiöse Ansichten als vielmehr um die nachhaltige Weltanschauung, da sie mehrere wertvolle Aspekte ins Coaching mit einbringen kann. Hierzu gehören bspw.
Wertschätzung des Augenblicks: Die shintoistische Tradition lehrt eine tiefe Wertschätzung für den gegenwärtigen Moment und eine Achtsamkeit für die Schönheit im Alltäglichen. Wir versuchen hierbei unsere Coachees dabei unterstützen, aus dem ständigen Kreislauf von Vergangenheitsanalyse und Zukunftssorgen herauszutreten und die Kraft des Hier und Jetzt zu erfahren.
Rituale als Übergangshilfen: Der Shintoismus ist reich an Ritualen, die Übergänge markieren und würdigen. In unserem Coaching können bewusst gestaltete Rituale unseren Klienten helfen, Lebensabschnitte abzuschließen, Erfolge zu feiern oder sich auf neue Herausforderungen einzustimmen.
Verbindung zur Natur: Die shintoistische Naturverbundenheit nutzen wir, um Klienten wieder mit ihren natürlichen Rhythmen und Ressourcen in Kontakt zu bringen. Coaching-Spaziergänge („Walk and Talk“) in der Natur oder die Verwendung von Naturanalogien unterstützen uns dabei, tiefgreifende Erkenntnisprozesse auslösen und zu verarbeiten.
Zen-Prinzipien als Coaching-Werkzeuge
Der Zen-Buddhismus, mit seiner Betonung von Einfachheit, direkter Erfahrung und Nicht-Anhaftung („Loslösung von festen Ideen“), bietet spannende komplementäre Perspektiven, die sehr gut ins Coaching integriert werden können.
Ma – Die Kraft der Leere: Das japanische Konzept von Ma – dem bewussten Raum zwischen den Dingen – lässt sich hervorragend auf Coaching-Gespräche übertragen. Statt jede Stille füllen zu wollen, schaffen wir ganz bewusst Pausen, in denen tiefere Einsichten entstehen können.
Mushin – Der Geist ohne Gedanken: Im Zen wird der Zustand von Mushin (wörtlich: „Nicht-Geist“) angestrebt – ein Bewusstseinszustand jenseits analytischen Denkens, in dem intuitive Klarheit herrscht. Mit Hilfe von Techniken wie Atemübungen oder Meditation kann es unseren Coachees gelingen, den ständigen Gedankenstrom zu unterbrechen und zu frischen Perspektiven zu gelangen.
Shoshin – Der Anfängergeist: Das Zen-Konzept des Shoshin – des offenen, vorurteilsfreien „Anfängergeistes“ – ist besonders wertvoll im Coaching. Es ermutigt sowohl den Coach als auch den Klienten/die Klientin, feste Überzeugungen loszulassen und Situationen mit einem frischem Blick zu betrachten.
Wabi-Sabi – Die Schönheit der Unvollkommenheit: Die zen-ästhetische Idee von Wabi-Sabi – der Wertschätzung des Unvollkommenen und Vergänglichen – kann unseren Klienten helfen, Perfektionismus zu überwinden und ihre menschlichen Begrenzungen anzunehmen.
Integration in unsere Coaching-Praxis
Die praktische Integration von östlichen Philosophien in unserem Coaching kann verschiedene Formen annehmen. Hierzu gehören bspw. Achtsamkeitsübungen zu Beginn oder während der Coaching-Sitzungen oder auch die Verwendung von Koans (paradoxen Rätseln) als Denkanstoß für festgefahrene Situationen. Darüber hinaus versuchen wir auch Coaching in natürlicher Umgebung umzusetzen, um shintoistische Naturverbundenheit zu fördern und nutzen die Reflektion über die eigene Vergänglichkeit als Wechsel der Perspektive. Wichtig ist es uns dabei, nicht nur einzelne Techniken zu übernehmen, sondern die zugrundeliegenden Philosophien zu verstehen und respektvoll zu adaptieren. Uns geht es nicht um kulturelle bzw. religiöse Aneignung, sondern um eine bewusste Integration wertvoller Ansätze in die eigene Coaching-Praxis.
Unser Fazit
Shintoismus und Zen bietet unserem modernen Coaching wertvolle alternative Blickwinkel jenseits westlicher Leistungs- und Zielorientierung. Sie eröffnen Zugänge zu Achtsamkeit, Intuition und ganzheitlicher, nachhaltiger Betrachtung, die insbesondere in unserer hektischen, von kognitiver Überlastung geprägten Zeit heilsam wirken können. Da wir diese östlichen Weisheitstraditionen in unsere Arbeit integrieren – natürlich nur dann, wenn es gewünscht oder sinnvoll ist – können wir unseren Coachees einen reicheren Erfahrungsschatz und vielfältigere Wege zur persönlichen Entwicklung anbieten.
Im nachfolgenden, haben wir für euch gezielt drei Prinzipien noch einmal näher herausgestellt.
Die Kraft der Koans im Coaching
Koans – diese paradoxen Rätsel aus der Zen-Tradition – bieten im Coaching einzigartige Möglichkeiten, festgefahrene Denkmuster zu durchbrechen und neue Perspektiven zu eröffnen.
Was macht Koans so wertvoll im Coaching?
Überwindung des rationalen Denkens: Koans wie „Wie klingt das Klatschen einer Hand?“ sind bewusst so gestaltet, dass sie mit logischem Denken nicht zu lösen sind. Dies zwingt den Verstand, gewohnte Denkbahnen zu verlassen und ermöglicht intuitive Durchbrüche bei Coachees, die in analytischen Schleifen feststecken.
Schaffung produktiver Verunsicherung: Koans erzeugen einen Zustand, den Zen-Meister „produktive Verwirrung“ nennen. Diese kognitive Dissonanz kann im Coaching gezielt eingesetzt werden, um starre Überzeugungen aufzuweichen und Raum für neue Einsichten zu schaffen.
Praktische Anwendung von Koans im Coaching
Als Reflexionsaufgabe: Ein Coach kann ein passendes Koan als „Hausaufgabe“ zwischen den Sitzungen geben. Anders als bei rationalen Reflexionsaufgaben geht es nicht um die „richtige“ Lösung, sondern um den Prozess des Ringens mit der Paradoxie.
Als Intervention bei Blockaden: Wenn ein Klient in Entweder-Oder-Denken gefangen ist, kann ein situationsbezogenes Koan helfen. Beispiel: Für jemanden, der zwischen zwei beruflichen Optionen schwankt, könnte die Frage lauten: „Was ist dein ursprüngliches Gesicht, bevor du diese Entscheidung treffen musstest?“
Zur Förderung von Nicht-Anhaftung: Koans helfen dabei, den Prozess der Loslösung von festen Ideen einzuleiten. Für einen Coachee, der an Perfektionismus leidet, könnte die Frage „Wie schmeckt das perfekte Nichts?“ eine tiefere Reflexion anstoßen als direkte Ratschläge.
Als metaphorischer Spiegel: Manchmal kann ein Coach ein Koan erschaffen, das die spezifische Situation des Klienten widerspiegelt. Wenn jemand beispielsweise Angst hat, eine sichere Position für eine unsichere Chance aufzugeben, könnte ein passendes Koan sein: „Kann der Vogel fliegen, ohne den Ast loszulassen?“
Der richtige Rahmen für Koans
Wichtig ist, Koans nicht als Gimmick oder Trick einzusetzen, sondern mit authentischem Verständnis ihrer Wirkungsweise. Der Coach sollte:
- Den Klienten auf die nicht-rationale Natur des Koans vorbereiten
- Keine „richtige Antwort“ erwarten oder bewerten
- Geduld mit dem Prozess haben und Raum für Stille geben
- Selbst eine Praxis haben, die Vertrautheit mit dieser Arbeitsweise schafft
Das Arbeiten mit Koans im Coaching erfordert Feingefühl und Timing – und ist gerade deshalb so wirkungsvoll, weil es den gemeinsamen Raum zwischen Coach und Klient in eine Dimension jenseits des Gewohnten erweitert.
Shoshin – Der Anfängergeist im Coaching
Shoshin (初心), der „Anfängergeist“, gehört zu den wertvollsten Konzepten, die das Zen in die Coaching-Praxis einbringen kann. Es beschreibt eine Geisteshaltung der Offenheit, Neugier und Vorurteilsfreiheit – wie sie ein Anfänger besitzt, der noch keine verfestigten Meinungen oder Routinen entwickelt hat. Im Coaching manifestiert sich Shoshin auf verschiedene Weise:
Praktische Beispiele für Shoshin im Coaching
Für den Coach:
- Die bewusste Nicht-Expertise: Ein erfahrener Coach, der eine neue Sitzung mit der Haltung beginnt: „Ich kenne zwar ähnliche Fälle, aber dieser Coachee und seine Situation sind einzigartig“ – und damit bewusst auf vorschnelle Kategorisierungen verzichtet.
- Das echte Zuhören: Wenn ein Coach bei einem scheinbar „typischen“ Problem (wie Führungskonflikten oder Work-Life-Balance) so zuhört, als würde er zum ersten Mal davon hören, entdeckt er nuancierte Aspekte, die bei routiniertem Zuhören verborgen blieben.
- Überraschung erlauben: Eine Coach bemerkt ihre eigene Überraschung, wenn ein Klient anders reagiert als erwartet, und nutzt diesen Moment der Überraschung als Lerngelegenheit statt als Störung ihres Expertenmodells.
Für den Coachee:
- Die „Was wäre wenn“-Übung: Ein Coach bittet einen festgefahrenen Führungskräfte-Klienten: „Stellen dir vor, du hättest gerade erst diese Position übernommen und wüsstest noch nichts über die ‚unmögliche‘ Teamdynamik. Wie würdest du als völliger Neuling an die Situation herangehen?“
- Rollentausch zur Perspektiverweiterung: Ein Klient, der mit seiner langjährigen Rolle als „Problemlöser“ im Team hadert, wird eingeladen, bewusst die Perspektive eines Neulings einzunehmen: „Wenn du morgen neu ins Team kommen würdest – welche Fragen würden du stellen, die keiner mehr stellt?“
- Die „Drei neue Dinge“-Praxis: Ein Coach gibt einem Coachee, der unter Routine-Ermüdung leidet, die Aufgabe, täglich drei Dinge zu notieren, die ihm in seinem gewohnten Arbeitsumfeld zum ersten Mal aufgefallen sind – eine praktische Übung in Shoshin.
- Kulturelle Missverständnisse als Chance: In einem interkulturellen Coaching-Setting nutzt der Coach bewusst Momente des Nichtverstehens als Gelegenheit für beide Seiten, den Anfängergeist zu kultivieren: „Lass uns gemeinsam erkunden, was hier passiert, ohne vorschnell zu urteilen.“
Methoden zur Förderung von Shoshin
- Die Zen-inspirierte Frage: „Wie würdest du die Situation mit den Augen eines Kindes betrachten?“ – hilft festgefahrenen Coachees, zu einer frischeren Perspektive zurückzufinden.
- Bewusstes Verlernen: Ein Coach unterstützt einen Klienten dabei, gezielt „Expertenwissen“ loszulassen, das zum Hindernis geworden ist: „Was müsstest du vergessen, um diese Situation neu zu sehen?“
- Meditation als Shoshin-Praxis: Kurze Achtsamkeitsübungen zu Beginn des Coachings, die den Geist „leeren“ und für neue Perspektiven öffnen.
- Das absichtliche Nicht-Wissen: Ein Coach, der bewusst sagt: „Zu diesem Punkt habe ich keine Expertise – lass uns gemeinsam erkunden, was hier wichtig sein könnte“ und damit Shoshin vorlebt.
Die Kraft des Shoshin liegt darin, dass es sowohl Coach als auch Coachee erlaubt, aus der Tyrannei des Expertentums auszubrechen. Es schafft einen Raum, in dem vermeintliche Gewissheiten hinterfragt werden können und neue Möglichkeiten entstehen – jenseits von „Das haben wir schon immer so gemacht“ oder „Das kann nicht funktionieren“.
Shoshin im Coaching bedeutet nicht, Erfahrung oder Wissen zu verleugnen, sondern sie in den Dienst einer offenen, neugierigen und vorurteilsfreien Betrachtung zu stellen – und damit den Raum für echte Transformation zu öffnen.
Mushin – Der Geist ohne Gedanken im Coaching
Mushin (無心), wörtlich „Nicht-Geist“ oder „Geist ohne Gedanken“, beschreibt im Zen einen Bewusstseinszustand von höchster Präsenz und Intuition, frei von ablenkenden Gedanken, Urteilen oder Ängsten. Im Coaching kann dieses Konzept auf vielfältige Weise Anwendung finden:
Praktische Beispiele für Mushin im Coaching
Für den Coach:
- Intuitive Präsenz: Ein Coach bemerkt während einer Sitzung plötzlich eine subtile Änderung in der Körperhaltung des Klienten, die er in einem analytischen Zustand übersehen hätte. Aus diesem Mushin-Zustand heraus fragt er: „Es scheint, als hätte sich gerade etwas verändert?“ – und öffnet damit einen wichtigen neuen Aspekt im Gespräch.
- Freies Antworten: Statt auf vorbereitete Coaching-Modelle oder -Fragen zurückzugreifen, lässt eine Coach im Mushin-Zustand ihre Fragen spontan aus der unmittelbaren Begegnung entstehen – was zu überraschend treffenden Interventionen führt, die keinem Schema folgen.
- Geteilte Stille: Ein Coach hat den Mut, mit einem Klienten in einer längeren Stille zu verweilen, ohne den Drang, diese zu füllen. In diesem gemeinsamen Mushin-Raum taucht oft eine tiefere Erkenntnis auf.
Für den Coachee:
- Die Ein-Minute-Mushin-Übung: Zu Beginn einer Coaching-Sitzung leitet der Coach eine kurze Ein-Minuten-Atembeobachtung an. Der Coachee wird eingeladen, einfach nur seinen Atem zu beobachten, ohne ihn zu verändern. Dies schafft einen kurzen Mushin-Moment, der den Übergang aus dem hektischen Alltag in den Coaching-Raum erleichtert.
- Körperbasierte Entscheidungsfindung: Bei einem Klienten, der zwischen zwei beruflichen Optionen schwankt und sich in endlosen Pro-Contra-Listen verliert, nutzt der Coach eine Mushin-Übung: „Schließ die Augen, lass alle Gedanken los und spüre für einen Moment nur in deinem Körper, während ich Option A nenne… und jetzt bei Option B.“ Oft zeigt die unmittelbare körperliche Reaktion eine Klarheit, die dem denkenden Verstand nicht zugänglich war.
- Der „leere Pinsel“: Ein Coach arbeitet mit einem kreativen Klienten, der unter Blockaden leidet, mit einer aus der Zen-Kalligraphie inspirierten Übung: Der Klient wird eingeladen, für fünf Minuten zu schreiben oder zu zeichnen, ohne vorher zu wissen, was entstehen soll – ein Eintauchen in den Mushin-Zustand, der kreative Blockaden lösen kann.
- Authentizitäts-Praxis: Eine Führungskraft, die unter Impostor-Syndrom leidet, wird eingeladen, kurze Momente in Meetings bewusst in einem Mushin-Zustand zu verbringen – nicht planend oder sich selbst beobachtend, sondern einfach präsent und antwortend aus dem Moment heraus.
Methoden zur Förderung von Mushin
- Die drei Atemzüge: Der Coach führt eine einfache Praxis ein, bei der der Coachee vor wichtigen Gesprächen oder Entscheidungen drei bewusste Atemzüge nimmt, um einen kurzen Mushin-Moment zu schaffen.
- Walk & Talk Coaching: Bei besonders verkopften Themen verlegt der Coach die Sitzung nach draußen und nutzt einen gemeinsamen Spaziergang, bei dem der rhythmische Akt des Gehens den Klienten leichter in einen Mushin-Zustand bringen kann.
- Die Pinpoint-Fokus-Übung: Bei einem Coachee mit Konzentrationsproblemen führt der Coach eine Übung ein, bei der dieser für eine Minute seine volle Aufmerksamkeit auf einen einzigen Punkt richtet – eine klassische Zen-Praxis zur Kultivierung von Mushin.
- Aus dem Nicht-Wissen sprechen: Ein Coach lädt einen Coachee, der sich in Selbstzweifeln verliert, ein, eine wichtige Frage zu beantworten – mit der Bedingung, sofort zu antworten, ohne nachzudenken. Diese spontane Antwort aus dem Mushin-Zustand enthält oft eine Weisheit, die dem analytischen Denken nicht zugänglich ist.
Die Integration von Mushin ins Coaching eröffnet einen Raum jenseits des endlosen Analysierens und Grübelns, in dem sowohl Coach als auch Coachee Zugang zu einer tieferen Ebene der Erkenntnis finden können. Es ist nicht ein „Abschalten“ des Denkens, sondern ein Zustand höchster Präsenz, in dem das Denken in den Hintergrund tritt und eine unmittelbare, unverfälschte Wahrnehmung möglich wird.