Von Joerg S.
Habt ihr euch schon einmal bewusst Gedanken darüber gemacht, was eure persönliche Identität ausmacht und welche Werte euer Leben prägen?
Die meisten Menschen leben ihr Leben, ohne sich diese fundamentalen Fragen zu stellen, und doch sind es genau diese Werte und unsere Identität, die unsere wichtigsten Entscheidungen lenken, unsere Beziehungen formen und letztlich bestimmen, ob wir ein erfülltes Leben führen.
Was sind Werte? Definitionen und Perspektiven
Die Frage nach der Definition von Werten hat Philosophen, Psychologen und Soziologen über Jahrzehnte beschäftigt und zu unterschiedlichen, aber sich ergänzenden Perspektiven geführt. Der Sozialpsychologe Shalom H. Schwartz, einer der einflussreichsten Werte-Forscher, definiert Werte als „erstrebenswerte, transsituationale Ziele, die in ihrer Wichtigkeit variieren und als Leitprinzipien im Leben einer Person oder einer anderen sozialen Einheit dienen“. Diese Definition betont die übergeordnete, situationsübergreifende Natur von Werten, die sich von konkreten Einstellungen oder Meinungen unterscheidet.
Der Organisationspsychologe Edgar Schein beschreibt Werte aus einer kulturellen Perspektive als „gemeinsame, implizite Annahmen, die das Verhalten leiten, den Menschen sagen, wie sie Dinge wahrnehmen, darüber denken und fühlen sollen“. Diese Definition hebt hervor, dass Werte oft unbewusst wirken und dennoch unser gesamtes Erleben und Handeln durchdringen.
Der deutsche Philosoph Max Scheler unterschied bereits in den 1920er Jahren zwischen verschiedenen Wertebereichen und betonte, dass Werte hierarchisch geordnet sind und eine objektive Rangordnung aufweisen. Seine Perspektive unterstreicht, dass nicht alle Werte gleichrangig sind und dass Menschen in Konfliktsituationen entscheiden müssen, welche Werte Vorrang haben.
Die Relation zwischen persönlicher Identität und Werten
Persönliche Identität und Werte stehen in einem eng verwobenen, wechselseitigen Verhältnis zueinander. Unsere Identität ist das Selbstverständnis dessen, wer wir sind, während unsere Werte die Überzeugungen darüber repräsentieren, was für uns wichtig und erstrebenswert ist. Werte sind gleichsam die Bausteine unserer Identität, sie geben unserem Selbstbild Kontur und Richtung. Eine Person, die Freiheit und Unabhängigkeit als zentrale Werte lebt, wird eine andere Identität entwickeln als jemand, für den Sicherheit und Zugehörigkeit im Vordergrund stehen.
Diese Beziehung ist jedoch nicht einseitig: Unsere Identität beeinflusst auch, welche Werte wir als wichtig erachten und wie wir sie interpretieren. Jemand, der sich primär über seine Rolle als fürsorglicher Mensch definiert, wird Werte wie Mitgefühl und Hilfsbereitschaft anders gewichten als jemand, dessen Identität stark durch Leistung und Erfolg geprägt ist. Diese wechselseitige Beziehung entwickelt sich im Laufe des Lebens kontinuierlich weiter und bildet den Kern dessen, was uns als Individuen auszeichnet.
Unterscheidungsmerkmale und Kategorien von Werten
Werte können nach verschiedenen Dimensionen unterschieden werden. Eine grundlegende Unterscheidung ist die zwischen instrumentellen und terminalen Werten. Instrumentelle Werte beschreiben wünschenswerte Verhaltensweisen oder Mittel zum Zweck, wie Ehrlichkeit, Verantwortungsbewusstsein oder Disziplin. Terminale Werte hingegen bezeichnen erstrebenswerte Endzustände wie Glück, Weisheit oder innerer Frieden.
Schwartz entwickelte ein zirkuläres Wertemodell, das zehn universelle Wertetypen identifiziert: Selbstbestimmung, Stimulation, Hedonismus, Leistung, Macht, Sicherheit, Konformität, Tradition, Benevolenz und Universalismus. Diese Werte sind auf einem Kontinuum angeordnet, wobei benachbarte Werte miteinander kompatibel sind, während gegenüberliegende Werte in Spannung zueinander stehen. So steht beispielsweise der Wert der Macht im Gegensatz zum Wert des Universalismus.
Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft persönliche versus kollektive Werte. Während persönliche Werte das individuelle Leben leiten, prägen kollektive Werte Gruppen, Organisationen oder ganze Gesellschaften. Diese können übereinstimmen, aber auch in Konflikt geraten, was zu inneren Spannungen führen kann.
Der Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und Werten
Werte und Bedürfnisse sind eng miteinander verknüpft, wobei Werte als kognitive Repräsentationen grundlegender menschlicher Bedürfnisse verstanden werden können. Abraham Maslows Bedürfnispyramide bietet hier einen aufschlussreichen Bezugsrahmen. Maslow unterschied zwischen fünf Bedürfnisebenen: physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung.
Diese Bedürfnisse manifestieren sich in entsprechenden Werten. Das Bedürfnis nach Sicherheit kann sich im Wert der Stabilität oder Verlässlichkeit ausdrücken, soziale Bedürfnisse korrespondieren mit Werten wie Zugehörigkeit oder Loyalität, und das Selbstverwirklichungsbedürfnis spiegelt sich in Werten wie Kreativität, Autonomie oder persönlichem Wachstum wider. Während Bedürfnisse universell und biologisch verankert sind, werden sie durch Werte kulturell geformt und individuell interpretiert. Ein Mensch in einer kollektivistischen Kultur mag sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit durch den Wert der Familienverbundenheit ausdrücken, während in individualistischen Kulturen eher Freundschaft und persönliche Netzwerke im Vordergrund stehen.
Jobtitel und Identität: Eine wichtige Unterscheidung
Ein häufiges Missverständnis besteht darin, die eigene Identität mit beruflichen Rollen oder Titeln gleichzusetzen. Wenn sich jemand auf die Frage „Wer bist du?“ mit „Ich bin Ingenieur“ oder „Ich bin Geschäftsführerin“ vorstellt, offenbart dies eine problematische Vermischung von Rolle und Identität. Der Jobtitel ist eine soziale Funktion, eine vorübergehende Rolle, die wir in unserem Leben einnehmen, nicht aber das Wesen unserer Identität.
Dies wird besonders deutlich beim Übergang in den Ruhestand. Menschen, die ihre Identität stark mit ihrer beruflichen Position verknüpft haben, erleben diesen Übergang oft als existenzielle Krise. Sie verlieren ihren Titel, ihre berufliche Funktion und damit vermeintlich einen großen Teil ihrer Identität. Tatsächlich aber bleibt die wahre Identität, die auf persönlichen Werten, Charaktereigenschaften und Lebensüberzeugungen basiert, völlig intakt. Ein Mensch, der den Wert der Hilfsbereitigkeit lebt, bleibt hilfsbereit, ob als Abteilungsleiter oder als Rentner. Eine Person, die Kreativität als Kernwert besitzt, verliert diese nicht mit dem Ruhestand, sondern kann sie auf neue Weise ausdrücken.
Die Gefahr der Identifikation über den Jobtitel liegt darin, dass sie Menschen verwundbar macht gegenüber äußeren Veränderungen und sie von der Entwicklung einer stabilen, intrinsischen Identität abhält. Wer sich hingegen seiner Werte bewusst ist und seine Identität darauf gründet, kann Rollenwechsel als natürliche Übergänge erleben, nicht als Identitätsverlust.
Unternehmenswerte: Definition und Beispiele
Unternehmenswerte sind die fundamentalen Überzeugungen und Prinzipien, die das Handeln einer Organisation leiten sollen. Sie definieren, wofür ein Unternehmen steht, wie Entscheidungen getroffen werden und welches Verhalten von Mitarbeitern erwartet wird. Im besten Fall schaffen Unternehmenswerte eine gemeinsame Identität und Orientierung, die über wirtschaftliche Ziele hinausgeht.
Gute Beispiele für authentische und wirksame Unternehmenswerte finden sich bei Organisationen, die diese nicht nur formulieren, sondern aktiv leben. Patagonia etwa formuliert seine Werte nicht als einzelne Schlagworte, sondern als gelebte Prinzipien: „Wir sind im Geschäft, um unseren Heimatplaneten zu retten“ ist mehr als ein Slogan, sondern spiegelt sich in konkreten Entscheidungen wider, etwa wenn das Unternehmen Kunden aktiv davon abhält, neue Produkte zu kaufen, wenn Reparatur möglich ist.
Aus Europa bietet Tony’s Chocolonely ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Das niederländische Schokoladenunternehmen hat die Mission „Crazy about chocolate, serious about people“ und den klaren Wert, eine komplett sklavenfreie Schokoladenindustrie zu schaffen. Statt abstrakt von „Fairness“ zu sprechen, haben sie konkrete, messbare Prinzipien etabliert: Sie zahlen eine „Tony’s Premium“ zusätzlich zum Fairtrade-Preis, kartieren ihre gesamte Lieferkette transparent und arbeiten direkt mit Kakaobauern in langfristigen Partnerschaften. Besonders bemerkenswert ist ihre radikale Transparenz: Ihr jährlicher „Fair Report“ berichtet offen über Fortschritte und Rückschläge, einschließlich der Fälle von Kinderarbeit, die in ihrer Lieferkette gefunden wurden. Selbst das Produktdesign kommuniziert ihre Werte – die ungleich großen Schokoladenstücke symbolisieren die Ungleichheit in der Kakaoindustrie. Zudem verfolgen sie einen Open-Source-Ansatz und teilen ihre Praktiken aktiv mit Konkurrenten, weil ihre Mission wichtiger ist als Marktvorteile.
Weitere europäische Beispiele sind der dm-drogerie Markt aus Deutschland, der den Wert „Initiative ergreifen und Verantwortung übernehmen“ durch flache Hierarchien und große Entscheidungsfreiheit der Filialmitarbeiter lebt, oder Buurtzorg aus den Niederlanden, ein Pflegedienst, der „Menschlichkeit vor Effizienz“ stellt, indem selbstorganisierte Teams von Pflegekräften ohne mittleres Management arbeiten und Zeit mit Patienten wichtiger ist als getaktete Abläufe.
Schlechte Beispiele für Unternehmenswerte sind häufig durch Allgemeinplätze und Unverbindlichkeit gekennzeichnet. Wenn ein Unternehmen „Innovation“, „Exzellenz“ und „Integrität“ als Werte nennt, ohne zu spezifizieren, was dies konkret bedeutet und wie Konflikte zwischen diesen Werten gelöst werden, bleiben sie leere Worthülsen. Besonders problematisch wird es, wenn proklamierte Werte im krassen Widerspruch zur gelebten Realität stehen. Wenn ein Unternehmen „Work-Life-Balance“ als Wert nennt, aber systematisch 60-Stunden-Wochen erwartet und fördert, untergräbt dies nicht nur diesen spezifischen Wert, sondern die gesamte Glaubwürdigkeit der Organisation.
Die Veränderbarkeit von Werten über die Zeit
Sowohl persönliche als auch unternehmerische Werte unterliegen Veränderungen über die Zeit, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Persönliche Werte entwickeln sich typischerweise im Laufe des Lebens. Junge Erwachsene priorisieren oft Werte wie Aufregung, Abenteuer und Selbstbestimmung, während im mittleren Lebensalter Werte wie Sicherheit, Familie und Verantwortung an Bedeutung gewinnen. Im höheren Alter rücken häufig Weisheit, Akzeptanz und Sinnhaftigkeit in den Vordergrund. Diese Veränderungen sind jedoch graduell und betreffen meist die Gewichtung und Interpretation von Werten, nicht ihre völlige Aufgabe oder Ersetzung.
Kernwerte, die tief in der Persönlichkeit verankert sind, zeigen eine bemerkenswerte Stabilität über Jahrzehnte hinweg. Ein Mensch, für den Gerechtigkeit ein zentraler Wert ist, wird diesen wahrscheinlich sein Leben lang beibehalten, auch wenn sich seine Vorstellung davon, was Gerechtigkeit konkret bedeutet, mit wachsender Lebenserfahrung differenzieren mag.
Unternehmenswerte sollten grundsätzlich eine gewisse Beständigkeit aufweisen, da sie die Identität der Organisation repräsentieren. Zu häufige Änderungen signalisieren Orientierungslosigkeit und untergraben die Glaubwürdigkeit. Dennoch gibt es legitime Gründe für Werteanpassungen: tiefgreifende Veränderungen im Geschäftsumfeld, Fusionen, fundamentale strategische Neuausrichtungen oder die Erkenntnis, dass bestehende Werte nicht mehr authentisch die Organisation repräsentieren. Solche Veränderungen sollten jedoch bewusst, begründet und im Dialog mit allen Beteiligten erfolgen, nicht als oberflächliche Rebranding-Übung.
Was Werte sind und was sie nicht sind
Werte sind tief verankerte Überzeugungen über das, was wichtig, richtig und erstrebenswert ist. Sie sind handlungsleitende Prinzipien, die uns in komplexen Situationen Orientierung geben. Werte sind relativ stabil, aber nicht starr, und sie können in Konflikt zueinander geraten, was uns zu schwierigen Abwägungen zwingt.
Werte sind jedoch nicht dasselbe wie Meinungen, die sich leicht ändern können, oder Einstellungen zu spezifischen Themen. Sie sind auch nicht identisch mit Zielen, auch wenn Ziele oft wertebasiert sind. Ein Ziel ist spezifisch und erreichbar („Ich möchte ein Haus kaufen“), ein Wert ist übergeordnet und dauerhaft („Sicherheit ist mir wichtig“). Werte sind auch keine Verhaltensweisen an sich, sondern die Motivationen hinter Verhaltensweisen. Zwei Menschen können dasselbe tun, etwa anderen helfen, aber aus unterschiedlichen Werten heraus: der eine aus Mitgefühl, der andere aus Pflichtbewusstsein.
Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass Werte nicht universell gut oder schlecht sind. Jeder Wert hat potentielle Schattenseiten. Der Wert der Loyalität kann zu blindem Gehorsam führen, der Wert der Unabhängigkeit zu Einsamkeit, der Wert der Ehrlichkeit zu Verletzung anderer. Die Weisheit liegt in der Balance und im bewussten Umgang mit unseren Werten.
Kulturelle Einflüsse auf Werte: Deutschland und Japan im Vergleich
Werte sind niemals kulturell neutral, sondern tief in historischen, religiösen und sozialen Kontexten verwurzelt. Ein Vergleich zwischen deutscher und japanischer Kultur illustriert dies eindrücklich und offenbart sowohl fundamentale Unterschiede als auch überraschende Gemeinsamkeiten. In Deutschland spielen Werte wie Ordnung, Pünktlichkeit, Direktheit und Effizienz eine zentrale Rolle, geprägt durch protestantische Arbeitsmoral, die Aufklärung und industrielle Tradition. Direktheit in der Kommunikation wird geschätzt, klare Vereinbarungen und Verträge sind fundamental, und die Trennung zwischen Privat- und Berufsleben ist (immer noch) ausgeprägt. Der deutsche Perfektionismus manifestiert sich in der Ingenieurskunst und dem Streben nach technischer Exzellenz, während Regelkonformität und die Einhaltung von Prozessen als Ausdruck von Professionalität gelten.
In Japan hingegen dominieren kollektivistische Werte wie Harmonie (Wa 和), Respekt gegenüber Hierarchien, indirekte Kommunikation und Gruppenorientierung. Das Konzept des „Gesichtswahrens“ (Mentsu 面子) ist zentral, und die Vermeidung von Konflikten oder direkter Konfrontation wird höher bewertet als die unmittelbare Klärung von Problemen. Der Wert der Geduld und des langfristigen Denkens zeigt sich im Konzept des „Kodawari„, der kompromisslosen Hingabe an Qualität und Perfektion über Generationen hinweg. Die Gruppe steht über dem Individuum, und persönliche Bedürfnisse werden häufig zugunsten des kollektiven Wohls zurückgestellt.
Diese unterschiedlichen Wertesysteme manifestieren sich in allen Lebensbereichen: In deutschen Unternehmen wird offenes, direktes Feedback als Zeichen von Professionalität und Respekt gesehen, während es in Japan als potentiell gesichtswahrend problematisch gelten kann und durch subtile, indirekte Hinweise ersetzt wird. Deutsche schätzen explizite, schriftliche Vereinbarungen und rechtlich bindende Verträge als Grundlage für Verlässlichkeit, Japaner verlassen sich stärker auf Vertrauen, implizites Verständnis und langfristige Beziehungen, die durch persönliche Verbindungen gefestigt werden. Im deutschen Kontext wird Konflikt als natürlicher Teil der Problemlösung akzeptiert und oft als konstruktiv betrachtet, während in Japan Konsens und Harmonie durch geduldige Abstimmungsprozesse wie „Nemawashi“ (informelle Vorabstimmung) angestrebt werden.
Doch bei allen Unterschieden gibt es auch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten, die oft übersehen werden. Beide Kulturen teilen einen tief verwurzelten Wert für Qualität und Handwerkskunst. Das deutsche „Made in Germany“ und das japanische „Monozukuri“ (die Kunst der Herstellung) repräsentieren beide eine Philosophie der Exzellenz, bei der Kompromisse in der Qualität als inakzeptabel gelten. In beiden Kulturen genießen Handwerker und Meister ihres Fachs hohes gesellschaftliches Ansehen, und die Ausbildung im Handwerk folgt strukturierten, langfristigen Traditionen – die deutsche Lehrlingsausbildung findet ihr Pendant im japanischen Meister-Schüler-System.
Sowohl Deutschland als auch Japan legen großen Wert auf Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit. Pünktlichkeit ist in beiden Kulturen nicht nur eine Tugend, sondern eine Selbstverständlichkeit und ein Zeichen von Respekt. Die berühmte deutsche und japanische Pünktlichkeit im öffentlichen Verkehr (in Deutschland zumindest die theoretische) ist mehr als technische Leistung – sie ist kultureller Ausdruck eines gemeinsamen Werteverständnisses. Beide Gesellschaften haben auch einen ausgeprägten Sinn für Ordnung und strukturierte Prozesse, wenn auch unterschiedlich motiviert: in Deutschland durch den Wunsch nach Effizienz und Klarheit, in Japan durch das Streben nach Harmonie und reibungslosem Ablauf.
Ein weiterer gemeinsamer Wert ist die Wertschätzung von Bildung und kontinuierlichem Lernen. Beide Kulturen investieren erheblich in Ausbildung und haben Bildungssysteme entwickelt, die akademische Leistung und praktische Kompetenz hochschätzen. Das deutsche Konzept der „Bildung“ – nicht nur als Wissenserwerb, sondern als umfassende Persönlichkeitsentwicklung – findet seine Entsprechung im japanischen Ideal der lebenslangen Selbstverbesserung und des Strebens nach Meisterschaft.
Auch der Respekt vor Tradition und gleichzeitige Innovation verbindet beide Kulturen. Deutschland bewahrt seine Handwerkstraditionen und historisches Kulturerbe, während es gleichzeitig Vorreiter in technologischer Innovation ist. Japan ehrt seine jahrhundertealten Traditionen in Kunst, Handwerk und Gesellschaft, integriert aber gleichzeitig modernste Technologie in den Alltag. Diese Balance zwischen Traditionsbewusstsein und Zukunftsorientierung ist in beiden Kulturen tief verankert.
Schließlich teilen beide Kulturen eine gewisse Zurückhaltung bei der öffentlichen Darstellung von Emotionen und eine Präferenz für Bescheidenheit. Übertriebene Selbstdarstellung wird in beiden Gesellschaften kritisch gesehen, auch wenn die Gründe unterschiedlich sein mögen: In Deutschland aus einem Ethos der Sachlichkeit und Authentizität, in Japan aus dem Prinzip der Demut und des Nicht-Hervorhebens des Einzelnen.
Diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind weder besser noch schlechter, sondern Ausdruck verschiedener kultureller Lösungen für universelle menschliche Herausforderungen. Das Verständnis dieser kulturellen Wertedimensionen ist besonders wichtig in einer globalisierten Welt, in der interkulturelle Zusammenarbeit zunehmend zur Norm wird. Wer die kulturellen Wurzeln von Werten versteht, kann Missverständnisse vermeiden, von anderen Perspektiven lernen und gleichzeitig die Stärken der eigenen Kultur bewusster nutzen.
Werte, Moral und Ethik: Beziehung und Unterscheidung
Werte, Moral und Ethik stehen in einem engen, aber nicht identischen Verhältnis zueinander. Werte sind die grundlegenden Überzeugungen darüber, was wichtig und erstrebenswert ist. Moral bezieht sich auf die konkreten Normen und Regeln darüber, was als richtig oder falsch, gut oder böse gilt, typischerweise innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft oder Kultur. Ethik ist die philosophische Reflexion über Moral, die systematische Untersuchung der Prinzipien, die moralische Urteile begründen.
Werte bilden die Grundlage für moralische Überzeugungen. Wenn jemand Gerechtigkeit als zentralen Wert hat, wird dies seine moralischen Urteile über fair oder unfair beeinflussen. Wenn Mitgefühl ein Kernwert ist, wird die Person andere moralische Prioritäten setzen als jemand, für den Eigenverantwortung im Vordergrund steht. Die Ethik fragt dann nach der Begründbarkeit und Konsistenz dieser moralischen Urteile: Können wir universelle ethische Prinzipien formulieren, oder ist Moral immer kulturell relativ? Wie lösen wir Konflikte zwischen verschiedenen moralischen Ansprüchen?
In der Praxis bedeutet dies: Eine Person kann den Wert der Ehrlichkeit hochhalten (Wert), daraus die moralische Regel ableiten, dass Lügen falsch ist (Moral), und sich dann in einer konkreten Situation fragen, ob es ethisch vertretbar ist, eine Notlüge zu erzählen, um jemanden vor großem Schaden zu bewahren (Ethik). Diese Unterscheidung ist wichtig, weil sie uns hilft, moralische Dilemmata bewusster zu reflektieren und zu erkennen, wann unsere Werte in Konflikt geraten.
Warum Unternehmenswerte mehr als Buzzwords sein müssen und nicht per Dekret funktionieren
Eine der häufigsten Schwächen in der Formulierung von Unternehmenswerten ist ihre Reduktion auf singuläre Schlagworte: „Innovation“, „Transparenz“, „Exzellenz“, „Integrität“. Solche Begriffe klingen beeindruckend, bleiben aber inhaltsleer, weil sie zu abstrakt sind und jeder sie nach Belieben interpretieren kann. Was bedeutet „Innovation“ konkret? Für ein Unternehmen könnte es radikale Produktinnovation bedeuten, für ein anderes kontinuierliche Prozessverbesserung, für ein drittes kreative Problemlösung im Kundenservice.
Wirksame Unternehmenswerte müssen kontextualisiert werden. Statt einfach „Transparenz“ zu postulieren, sollte ein Unternehmen formulieren: „Wir sind offen und transparent in unserer Kommunikation und leben diesen Ansatz in unserem täglichen Tun, indem wir Informationen aktiv teilen, Entscheidungen begründen und Fehler offen ansprechen.“ Diese Konkretisierung schafft Klarheit darüber, was der Wert praktisch bedeutet und wie er im Alltag gelebt werden soll.
Zudem sollten Werte in ihrer Beziehung zueinander dargestellt werden. Werte existieren nicht isoliert, sondern stehen oft in Spannung. Ein Unternehmen könnte formulieren: „Wir schätzen sowohl schnelle Entscheidungen als auch gründliche Analyse. In unserem Kontext bedeutet das, dass wir bei operativen Fragen Geschwindigkeit priorisieren, bei strategischen Entscheidungen aber Sorgfalt vor Schnelligkeit setzen.“ Eine solche differenzierte Formulierung hilft Mitarbeitern zu verstehen, wie Wertekonflikte im konkreten Fall gelöst werden sollen, statt sie mit widersprüchlichen Signalen zu verwirren.
Ein fundamentales Missverständnis vieler Führungskräfte besteht darin zu glauben, Werte könnten per Order Mufti oder Management-Dekret in einer Organisation implementiert werden. Nach diesem Verständnis definiert das Top-Management Werte, lässt Poster drucken, hält eine Präsentation und erwartet dann, dass die gesamte Belegschaft diese Werte internalisiert und lebt. Diese Vorstellung ignoriert die grundlegende Natur von Werten als tief verankerte Überzeugungen, die nicht einfach verordnet werden können.
Werte entstehen und entwickeln sich durch gemeinsame Erfahrungen, Stories und wiederholte Verhaltensweisen. Sie müssen von den Menschen, die sie leben sollen, als authentisch und sinnvoll erlebt werden. Ein Top-Down-Ansatz scheitert typischerweise aus mehreren Gründen: Erstens fehlt die Identifikation, wenn Menschen nicht in den Prozess der Werteformulierung einbezogen wurden. Zweitens entstehen Glaubwürdigkeitsprobleme, wenn das Management selbst die proklamierten Werte nicht konsequent vorlebt. Drittens ignoriert dieser Ansatz, dass viele Organisationen bereits implizite Werte leben, die möglicherweise im Widerspruch zu den neu verkündeten Werten stehen.
Erfolgreiche Werteentwicklung in Organisationen ist ein partizipativer Prozess. Sie erfordert Dialog auf allen Ebenen, die Bereitschaft, bestehende Praktiken kritisch zu hinterfragen, und vor allem Zeit. Werte müssen durch konsistentes Verhalten der Führung, durch Anerkennungssysteme, die wertkonformes Verhalten belohnen, und durch Konsequenzen bei Wertverletzungen gestärkt werden. Sie entstehen nicht durch Verkündigung, sondern durch Kultivierung.
Unternehmenswerte und Unternehmenskultur: Ein komplexes Verhältnis
Unternehmenswerte und Unternehmenskultur stehen in einem engen, aber oft missverstandenen Verhältnis. Unternehmenswerte sind die explizit formulierten Prinzipien und Überzeugungen, die eine Organisation leiten sollen. Unternehmenskultur hingegen ist das komplexe Geflecht aus impliziten Annahmen, Verhaltensmustern, Ritualen, Geschichten und Normen, die das tatsächliche Zusammenleben in der Organisation prägen. Edgar Schein beschrieb Kultur als einen dreischichtigen Aufbau: Auf der Oberfläche sichtbare Artefakte, darunter proklamierte Werte, und im Kern unbewusste Grundannahmen.
Idealerweise stimmen proklamierte Werte und gelebte Kultur überein, aber häufig existiert eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ein Unternehmen mag „Teamwork“ als Wert deklarieren, während die tatsächliche Kultur durch interne Konkurrenz und Silodenken geprägt ist. Diese Diskrepanz entsteht, weil Kultur sich über lange Zeiträume durch die kollektiven Erfahrungen der Organisationsmitglieder entwickelt hat und nicht einfach durch neue Wertedefinitionen ersetzt werden kann.
Ein besonders wichtiger Aspekt ist die Erkenntnis, dass Unternehmenskultur niemals kopiert werden kann. Organisationen, die versuchen, die Kultur erfolgreicher Unternehmen wie Apple, Netflix oder Patagonia zu imitieren, scheitern regelmäßig. Der Grund dafür liegt in der Einzigartigkeit jeder Organisationsgeschichte. Kultur entsteht aus spezifischen Gründungserfahrungen, den Persönlichkeiten der Gründer und Führungskräfte, der Geschichte von Erfolgen und Krisen, der Branche und dem Marktumfeld, sowie der Zusammensetzung der Belegschaft. Was bei Apple funktioniert, wo hochqualifizierte Technologie-Experten in einem relativ schnelllebigen Innovationsumfeld arbeiten, kann bei einem traditionellen Fertigungsunternehmen mit völlig anderen Herausforderungen und Mitarbeiterstrukturen vollkommen fehlschlagen.
Authentische Kulturentwicklung erfordert, die eigene Geschichte zu verstehen, die tatsächlich gelebten Werte zu identifizieren und dann bewusst zu entscheiden, welche Aspekte gestärkt und welche verändert werden sollen. Dies ist ein organischer, langfristiger Prozess, keine technische Implementation.
Identität, Purpose und Ikigai: Begriffliche Klärungen
Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Identität und Purpose oft synonym oder zumindest überlappend verwendet, doch es gibt wichtige Nuancen. Identität beantwortet die Frage „Wer bin ich?“ und bezieht sich auf das Selbstverständnis einer Person oder Organisation, geprägt durch Werte, Erfahrungen und Beziehungen. Purpose hingegen beantwortet die Frage „Warum bzw. wofür bin ich da?“ oder „Welchen Beitrag möchte ich leisten?“ und bezieht sich auf den übergeordneten Sinn und Zweck des eigenen Handelns.
Die beiden Konzepte sind eng verbunden: Ein klarer Purpose kann die Identität stärken, und eine gefestigte Identität erleichtert es, den eigenen Purpose zu finden. Dennoch sind sie nicht identisch. Jemand kann eine klare Identität als kreativer, unabhängiger Mensch haben, aber noch nach seinem spezifischen Purpose suchen. Umgekehrt können Menschen einen Purpose verfolgen, der nicht vollständig mit allen Aspekten ihrer Identität übereinstimmt, was zu inneren Konflikten führen kann.
Das japanische Konzept des Ikigai bietet hier eine integrative Perspektive. Ikigai, oft übersetzt als „Grund zu sein“ oder „Lebenssinn“, beschreibt den Schnittpunkt von vier Dimensionen: Was man liebt, worin man gut ist, was die Welt braucht und wofür man bezahlt werden kann. Ikigai verbindet also persönliche Werte und Neigungen (Identität), gesellschaftlichen Beitrag (Purpose), Kompetenz und wirtschaftliche Nachhaltigkeit. Es geht nicht nur darum, die eigene Bestimmung zu finden, sondern einen ganzheitlichen Lebensentwurf zu entwickeln, in dem verschiedene Dimensionen in Einklang gebracht werden.
Im Gegensatz zum oft im Westen vorherrschenden Verständnis von Purpose als großem, weltveränderndem Ziel, betont Ikigai die Bedeutung der kleinen, alltäglichen Freuden und Beiträge. Ikigai kann in der liebevollen Zubereitung einer Mahlzeit liegen, in der meisterhaften Ausübung eines Handwerks oder in der Pflege von Beziehungen. Diese Perspektive erinnert daran, dass Sinn und Identität nicht nur in spektakulären Lebensentwürfen zu finden sind, sondern in der bewussten, wertgeleiteten Gestaltung des Alltags.
Der Wertekompass: Veränderung und Verschiebung über die Jahrzehnte
Das Konzept des Wertekompass oder inneren Kompass beschreibt das innere Orientierungssystem, das uns bei Entscheidungen und in moralischen Dilemmata leitet. Dieser Kompass ist nicht statisch, sondern unterliegt sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Veränderungen. Betrachten wir die letzten Jahrzehnte, lassen sich signifikante Verschiebungen in den dominanten Wertehierarchien beobachten.
In den 1950er und 1960er Jahren dominierten in westlichen Gesellschaften Werte wie Pflichterfüllung, Gehorsam, materielle Sicherheit und traditionelle Familienstrukturen. Die 1968er-Bewegung brachte eine Verschiebung hin zu Selbstverwirklichung, individueller Freiheit und Autoritätskritik. Die 1980er und 1990er Jahre waren geprägt von materialistischen Werten, Karriereorientierung und dem Glauben an unbegrenztes Wachstum. Die 2000er Jahre sahen eine zunehmende Bedeutung von Work-Life-Balance, Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung.
In den letzten Jahren, beschleunigt durch die COVID-19-Pandemie und die Klimakrise, erleben wir eine weitere deutliche Verschiebung. Werte wie Sinnhaftigkeit, psychische Gesundheit, Authentizität und gesellschaftlicher Beitrag gewinnen an Bedeutung, während Status und materielle Akkumulation für viele Menschen, insbesondere jüngere Generationen, an Attraktivität verlieren. Die digitale Transformation hat neue Wertedimensionen wie Datenschutz, digitale Autonomie und das Recht auf Nichterreichbarkeit in den Vordergrund gerückt.
Diese Verschiebungen sind nicht universal und verlaufen nicht linear. Gleichzeitig mit progressiven Wertewandel gibt es oft reaktionäre Gegenbewegungen, die traditionelle Werte betonen. Zudem variieren Werteprioritäten stark zwischen Kulturen, Generationen und sozialen Milieus. Was sich jedoch klar zeigt, ist dass der individuelle Wertekompass heute in einem komplexeren, pluralistischeren Umfeld navigieren muss als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Vielfalt an Lebensmodellen, Weltanschauungen und Wertesystemen, mit denen wir konfrontiert sind, macht die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Werten umso wichtiger.
Eine kleine Aufforderung zum Handeln
Nach dieser umfassenden Betrachtung von Werten und Identität bleibt eine zentrale Handlungsempfehlung: Nehmt euch doch die Zeit, eure persönlichen Werte aufzuschreiben. Nicht als abstrakte Gedankenübung, sondern als konkrete, schriftliche Reflexion. Warum ist dies so wertvoll?
Erstens schafft das Aufschreiben Klarheit. Was im Kopf vage und diffus scheint, wird durch die Verschriftlichung konkret und greifbar. Zweitens ermöglicht es die Priorisierung. Wenn wir gezwungen sind, unsere Werte zu benennen und zu ordnen, werden uns Konflikte und Hierarchien bewusst, die im Alltag unbewusst bleiben. Drittens dient eine schriftliche Werteliste als Kompass in Entscheidungssituationen. Wenn wir vor schwierigen Entscheidungen stehen, können wir auf unsere niedergeschriebenen Werte zurückgreifen und prüfen, welche Option besser mit ihnen übereinstimmt. Viertens hilft das Aufschreiben dabei, Veränderungen zu erkennen. Wenn wir unsere Werte regelmäßig reflektieren und dokumentieren, können wir unsere persönliche Entwicklung nachvollziehen und bewusster steuern. Fünftens schafft es Verbindlichkeit uns selbst gegenüber. Ein niedergeschriebener Wert ist eine Art Selbstverpflichtung, die schwerer zu ignorieren ist als ein flüchtiger Gedanke.
Beginnt mit fünf bis sieben Kernwerten, die euch wirklich wichtig sind – nicht jene, von denen ihr glaubt, dass sie wichtig sein sollten, sondern jene, die ehrlich euer Leben prägen und prägen sollen. Beschreibt dann in ein bis zwei Sätzen, was jeder dieser Werte für euch konkret bedeutet. Diese einfache Übung kann der Beginn einer tieferen Selbsterkenntnis sein und die Grundlage für ein authentischeres, wertegeleitetes Leben schaffen. Denn nur wer seine Werte kennt, kann bewusst nach ihnen leben und eine Identität entwickeln, die nicht von äußeren Rollen abhängt, sondern von innen heraus stabil und authentisch ist.
